Zufällige Existenz

Verfasst am 15. Mai 2011 von Gringer (Kategorie: Interviews) — 49.807 views

Ein Interview mit The Ocean

Es ist ziemlich genau ein halbes Jahr her, als das Berliner Kollektiv The Ocean mit „Anthropocentric“ den Konzept-Bruder des erfolgreichen „Heliocentric“ veröffentlichten.

Metal-Aschaffenburg-Redakteurin Linda unterhielt sich einige Zeit nach Erscheinen mit Chefdenker und Fadenzieher Robin Staps – Ein interessantes Gespräch, das wir euch nicht vorenthalten wollen:

Metal-Aschaffenburg: Herzlichen Glückwunsch zum gelungenen Part 2 – Anthropocentric. Auch wenn er für mich noch schwieriger zu erfassen war als „Heliocentric“. Favorisierst du eines der beiden Alben oder siehst du es als Gesamtkunstwerk?

Robin Staps: Och, ich bin mit beiden ganz glücklich. Sind ganz verschiedene Alben bei rausgekommen, aber das sollte ja auch so sein. Ich habe natürlich einzelne Lieblingstracks, oder solche, die man live am liebsten spielt, aber ich finde, beide Alben sind stark und könnte mich nicht für eines entscheiden.

the_ocean_-_anthropocentricIm Vorfeld wurde erzählt, dass es viel härter als „Heliocentric“ werden würde. Kann ich ehrlich gesagt überhaupt nicht bestätigen. Ja, es ist natürlich Härte vorhanden, aber perfekt ausgewogen – nicht stumpfsinnig, eintönig, sondern durch Loïc perfekt abgerundet. Siehst du „Anthropocentric“ wirklich so verschieden zu „Heliocentric“?

Anthropocentric“ wirkt zunächst härter, es gibt mehr geschriehene Gesangspassagen. Trotzdem decken wir auch hier wieder das gesamte Spektrum ab, was den Ozean eben auszeichnet, von ruhigen, akustischen Momenten bis hin zum Breitwandgitarrensturm. Was die beiden Alben am ehesten unterscheidet, ist für mich die Tatsache, dass auf „Anthropocentric“ die orchestralen Passagen, die durch klassische Instrumente getragen werden, weitestgehend fehlen. Streicher gibt es nur bei „The Almightiness Contradiction“, alle anderen Songs sind recht reduziert instrumentiert; meist nur mit Schlagzeug, Gitarren, Bass und Gesang. Das war durchaus beabsichtigt, wir wollten halt ein Album machen, wo der Kern der Band im Vordergrund steht. Insofern ist „Anthropocentric“ ein etwas bescheideneres Album als das opulente „Heliocentric“.

Empfindest du Loïc auch als die beste Besetzung für The Ocean oder liebäugelst du mit einer Art Open-Mic-CC wie bei „Aeolian“ – oder reicht dir der ein oder andere Gastsänger wie im Moment aus?

Nee, die Zeiten sind vorbei. Loïc ist unser fester Sänger und wird das auch bleiben. Das „Aeolian“-Konzept war seinerzeit cool, aber wir sind mittlerweile eine feste Band geworden. Loïc deckt jeden nur erdenklichen Style ab und holt mehr aus Gesang raus, als ich diesem „Instrument“ je zugetraut hätte. Da bleiben meinerseits keine Wünsche offen.

Ihr verarbeitet ein Teil des großartigen Buches: „Die Brüder Karamasow“ von Dostojewski. Magst du Dostojewski oder war es tatsächlich nur das berühmte Kapitel, als der Großinquisitor seinen Monolog hält und dieser thematisch so gut ins Konzept gepasst hat?

Ich bin großer Dostojewski-Fan… hab‘ mir sogar mal sein Geburtshaus in St. Petersburg angeschaut! Ich bewundere Dostojewskis Fähigkeit, mit sehr einfachen literarischen Mitteln ungeheuer komplexe Zusammenhänge zu erzählen und die verwobensten zwischenmenschlichen Beziehungen mit einfachstem Vokabular verständlich zu machen. Dabei gelingt es ihm stets, seine Charaktere in ihrer Verkorkstheit immer noch einfühlsam darzustellen. Das ist großes Kino.

Das Kapitel „Der Großinquisitor“ in Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“ haben wir als konzeptuellen Background verwurstet. Hier erzählt Ivan, der Philosoph und Atheist, seinem gläubigen Bruder Aljoscha eine Parabel von Jesus, der ins Sevilla des 16. Jahrhunderts zur Erde zurückkehrt. Dort wird er von der katholischen Inquisition verhaftet. Der Großinquisitor verurteilt Jesus erneut zu Tode und wirft ihm vor, in seiner Mission versagt zu haben und nun die Ordnung, welche die Kirche geschaffen hat, zu stören. Er rückt die biblische Legende von der Versuchung Christi in ein anderes Licht: Jesus hätte sich vom Tempel stürzen und sich von den Engeln retten lassen sollen, sagt der Großinquisitor, dann wären ihm alle Menschen bis in alle Ewigkeit gefolgt. Darauf verzichtete Jesus aber und zog es stattdessen vor, den Menschen die Freiheit des Zweifels zu lassen. So hat er sie um die Erlösung betrogen. Des Weiteren hätte er aus Stein Brot machen sollen, denn man muss den Menschen zunächst Brot geben, bevor man von ihnen Tugend verlangt. Der Großinquisitor wirft Jesus vor, zuviel Respekt vor dem Menschengeschlecht gezeigt zu haben und darin zu viel von den Menschen verlangt zu haben – denn der Mensch sei von Natur aus schwach. Wenn Jesus die Menschen tatsächlich geliebt hätte, dann hätte er sie weniger respektieren und ihnen nicht die Last der Freiheit aufbürden sollen, zugunsten ihrer Erlösung. Jesus habe also auf ganzer Linie versagt, die Kirche habe sein Werk korrigiert und verbessert.

484-01Was bevorzugst du ansonsten an Literatur?

Ich komme derzeit leider fast gar nicht zum Lesen. Zuletzt habe ich Philip Roth gelesen („Der menschliche Makel“ und das großartige „Das sterbende Tier“), Jose Saramago und „Strangeland“ von Tracy Emin… sehr unterschiedliche Sachen also.

Stört dich eher die Tatsache, dass Leute trotz erschlagener Beweise an die Bibelgeschichte glauben, statt an die Evolutionstheorie? Sprich, bist du generell gegen Glauben oder nur gegen die Institution/Sekten…? Auch wenn wir beweisen können, dass wir nicht aus Lehm gebastelt sind, so können wir doch schwer nachweisen, dass es keine höhere Macht gibt, oder?

Ich finde, Glauben hat ausgedient. Es gibt wahrscheinlichkeitstheoretisch erdrückende Evidenzen gegen eine Existenz von Gott. Dawkins erzählt viel darüber in „The God Delusion“. Sicherlich kann man von der Existenz der abstrusesten Dinge ausgehen, so kommt man dann zum fliegenden Spaghetti-Monster. Gute Gründe im rationalistischen Sinne wird man dafür aber nicht finden. Dawkins unterscheidet einen starken von einem schwachen Agnostizismus und empfindet für letzteren noch eine gewisse Art von Grundsympathie, aber im Prinzip sagt er, dass der Agnostizismus nur eine feige oder diplomatische Art und Weise ist, dem Problem der Gottesfrage aus dem Weg zu gehen und einer Antwort schuldig zu bleiben… und ich schließe mich dem weitestgehend an.

Meinen kleinen Monolog, dass wir entweder ein lang angelegtes Experiment sein könnten oder eben doch nur ein Zufallsprodukt sind, hat Robin netterweise auch kommentiert. Meine geistigen Ergüsse erspare ich euch, aber Robins Meinung und den Bezug zu den Alben möchte ich euch natürlich nicht vorenthalten.

Das geht mir zuviel durcheinander. Wenn Du sagst, wir könnten ja ein Experiment sein, setzt dies einen Experimentator voraus – das ist nur ein anderes Wort für „prime mover“, „architect of the universe“ oder eben Gott. Das Problem bei einer solchen Annahme liegt darin, dass es das Problem nur verschiebt: Wenn es einen solchen Experimentator gäbe, der alles Komplexe in der Welt geschaffen hat, dann muss er selbst ja zumindest so komplex sein wie sein Schaffensprodukt – wer aber, stellt sich dann die Frage, hat ihn selbst denn dann geschaffen? Das ist eine Kette ohne Anfang und ohne Ende und so etwas leistet in erklärungstechnischer Hinsicht leider gar nichts. Genau das ist das Thema unseres Songs „The Origin Of God“.
Wenn Du hingegen sagst, wie seien Zufall – ja, dem würde ich zustimmen. Ein zufälliges Produkt eines nicht-zufälligen sondern sehr zielgerichteten Prozesses, der Evolution nämlich. Dem würde aber jeder Gläubige oder jeder Experiment-Theoretiker sofort widersprechen…

(lkb)

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