Mein Kopf ist ein brutaler Ort
Verfasst am 05. Oktober 2018 von Michael Klein (Kategorie: Band Of The Month, Interviews) — 3.044 viewsEs soll Leute geben, die sind 42 Jahre und Elektroingenieur – und kennen Mein Kopf ist ein brutaler Ort noch nicht.
Lasst es also nicht so weit kommen und zieht Euch mal das geile Zeug von dieser fabulösen hessischen Band rein! Optimaler Start: Das neue Album „Selbstmitleitkultur“ – über das wir uns mit Sänger Christian und Gitarrist Ralf unterhielten.
Metal-Aschaffenburg: Zuerst mal Glückwunsch zu „Selbstmitleitkultur“!
Für mich ist das euer bisher bestes Album!
Seid ihr mit einem bestimmten Vorsatz ans Songwriting gegangen? Oder der Absicht etwas anders zu tun als noch bei „Brutalin“?
Christian: Die Songs für „Brutalin“ hatten wir bereits fertig und einige Male live gespielt, bevor wir sie aufgenommen haben. Bei „Selbstmitleitkultur“ haben wir uns eine Frist gesetzt und uns dann ans Songwriting gewagt. Wir wollten vermeiden, dass sich die nächste Veröffentlichung verzögert und haben dem Schlendrian von Anfang an keine Chance gegeben.
Ralf: Da Joni und Anthony bei den Aufnahmen zu „Brutalin“ noch recht frisch in der Band waren, hatten sie wenig Gelegenheit, ihren Stil und ihre Ideen einfließen zu lassen. Auf „Selbstmitleitkultur“ waren die beiden von Anfang an dabei und konnten sich viel mehr einbringen. Das gesamte Songwriting war dadurch deutlich organischer, und wir haben konnten viel Zeit in Feinheiten investieren.
Ich finde, ihr habt das Energielevel auf „Selbstmitleitkultur“ hoch gehalten, konntet aber deutlich mehr Abwechslung in euren Sound bringen – etwas das „Brutalin“ retrospektiv etwas gefehlt hat. Stimmt ihr mir da zu?
Christian: Ja. Den Vorsatz, etwas mehr Abwechslung auf die Platte zu bringen, hatten wir relativ früh gefasst. In der Entstehungsphase von „Brutalin“ haben wir uns von unserem ehemaligen Schlagzeuger und Gitarristen verabschieden müssen. Große Teile der Songs entstanden also mit nur einem Gitarristen. In der neuen Besetzung haben wir die Platte dann relativ zügig aufgenommen. Jetzt haben wir zwei äußerst produktive Köpfe an den Klampfen, die sich gegenseitig super ergänzen. Ich denke, das hört man.
Ralf: Energie und Aggressivität sind cool, können aber über die Dauer eines Albums auch ermüdend werden. Dem haben wir versucht entgegenzuwirken.
Die Scheibe trägt einen spannenden Titel. Ich vermute dahinter eine Anspielung auf unsere Wohlstandsgesellschaft, die zu großen Teilen jedoch nur über ihre Verhältnisse meckert… Was bedeutet der Begriff „Selbstmitleitkultur“ für euch?
Christian: Das hast du sehr schön zusammengefasst. Zum einen hört man in den letzten Jahren immer wieder den Begriff „Leitkultur“, über dessen Deutung fleißig diskutiert wird. Für mich, der aus Niedersachsen nach Hessen gekommen ist, war es immer schwer nachzuvollziehen, was Leitkultur überhaupt sein soll. Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Ostfriesen, Bayern, Pfälzern und Berlinern? Teilweise ist es ja nicht einmal die Sprache. (grinst) Es kommt immer darauf an, wen man fragt. Zum Anderen sind wir Deutschen im Jammern wohl die unangefochtenen Weltmeister, auch wenn es uns hier auf diesem Fleckchen Erde so gut geht, dass uns viele darum beneiden.
Ralf: Im Prinzip beobachten wir, was um uns herum passiert und nehmen natürlich wahr, dass wir zwar in einer sehr wohlhabenden und offenen, aber auch zunehmend gespaltenen Gesellschaft leben. Diese gesellschaftliche Entwicklung treibt uns um und der Titel versucht genau diesen Spannungsbogen einzufangen.
Interessant finde ich auch den Text zu „Sehenden Auges“. Darin singt ihr: „Du musst dazu gehören. Irgendwo, irgendwie, deckungsgleich. Auf Linie oder Feind“
Findet man hier eine Anspielung auf die zunehmende Unterdrückung der Individualität wieder? Darauf, dass einem Big Player (Unternehmen wie Facebook, Google oder auch Institutionen wie Kirchen, Banken etc.) immer mehr in bestimmte Schemen und Muster pressen wollen.
Welchen Ausweg wird es hier geben?
Christian: Das ist eine interessante Interpretation! Ich habe mich von einer Sascha-Lobo-Kolumne dazu inspirieren lassen, in der es darum geht, wie extreme Kräfte ihre Anhängerschaften sammeln. Je angespannter eine gewisse Lage wird, desto schärfer wird man darauf gedrängt, Position zu beziehen, am besten dann aber auch allumfassend und ohne Abweichung. Das Individuum bleibt dabei häufig auf der Strecke. Ein Ausweg kann sein, dass man sich zurückzieht, beobachtet und feststellt, dass es eben nicht nur schwarz und weiß gibt, sondern sich Gesamtbilder aus vielen Schattierungen ergeben – nicht nur in grau, sondern auch in anderen Farben. Wenn diese Erkenntnis dann dazu führt, dass die Menschen bei sich selbst beginnen, ihre Umwelt zu verbessern, statt andere dafür verantwortlich zu machen und zu warten, bis irgendjemand anderes es für sie regelt, wäre schon sehr viel erreicht.
Da sprichst du mir aus der Seele!
Es ist extrem auffällig, dass es Musik-Genres (und entsprechende Musiker) gibt, die sich kritischer Inhalte komplett verweigern. Sei es Pop oder Schlager…
Stört euch diese alles und nichts sagende Haltung?
Christian: Meistens stört es mich nicht und ich erwarte das auch nicht. Schwierige Inhalte kann man als Künstler nur transportieren, wenn man zumindest authentisch wirkt. Viele Pop- und Schlagersterne singen Lieder, die andere für sie geschrieben haben und befinden sich in einer Maschine, die nur dann wirklich gut funktioniert, wenn man nirgendwo aneckt. Politische Statements kosten immer einen Preis – seien es Likes, Abonnements oder Plattenverkäufe. Womit wir irgendwie wieder bei „Sehenden Auges“ wären…
Wie viel (Gesellschafts-) Kritik darf und muss in härteren Sounds vorhanden sein?
Christian: Wenn man in alternativen Genres wie Metal nicht gesellschaftskritisch sein darf, wo dann? Letzten Endes kommt es doch immer darauf an, was man als Künstler oder Künstlerin zu sagen hat. Diese Platte ist jetzt ziemlich gesellschaftskritisch geworden. Wir haben in der Entstehungszeit viel gesehen und es entsprechend verarbeitet. Gerne hätten wir mehr Positives verarbeitet, aber wer weiß, wie die Dinge in zwei Jahren stehen und worüber wir dann sprechen werden.
Wenn man Kritiken zu euren Scheiben liest, dann tauchen immer wieder Namen wie Pantera, Lamb Of God oder auch mal Machine Head auf.
Deutlich seltener findet man dort deutschsprachige Bands. Habt ihr eine Erklärung dafür, warum so sich so wenige Bands an deutschsprachigen Metal wagen?
Christian: Vielleicht fehlt es an entsprechenden deutschsprachigen Vorbildern.
Für mich waren es damals Berührungsängste. Wenn ich an deutschsprachige Musik gedacht habe, kamen mir sofort Bilder von jungen Singer-Songwriter-Typen in den Kopf, die gefühlt nur am Heulen waren. Als nächstes kam dann dieser Ballermann-Schlager und dann irgendwann Rammstein oder die Onkelz. Für mich war klar, dass ich da nirgendwo dazu passe. Die Jungs haben echt viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, bis ich es probiert habe. Dann haben wir gemerkt, dass es passt und wir etwas Eigenes aufbauen können.
Es könnte auch sein, dass Englisch die Perspektive bietet, mehr Leute zu erreichen. Mit einem guten Musikvideo auf YouTube, können Bands heute auf der ganzen Welt gehört und gefeiert werden, auch wenn viele Bands wohl niemals aus ihrem Heimatland rausgekommen sind. Beschränkt man sich auf eine nicht so weit verbreitete Sprache, nimmt man sich diese potenzielle Reichweite.
Als letztes steht dann noch eine eventuelle politische Gesinnung mit im Raum, an der man als Band gemessen wird, wenn man harte Musik macht und dazu auf Deutsch textet. Das deutsche Publikum ist da glücklicherweise sehr wachsam und sensibel und verhält sich entsprechend ablehnend, wenn Verbindungen zur rechten Szene oder zur Grauzone bestehen.
Ralf: Als Gitarrist kann ich sagen, dass ich bei englischsprachigen Bands häufig nicht so genau auf die Texte höre und eine Band daher auch leichter mit einem sinnbefreiten Text durchkommt.
Bei deutschen Texten ist das anders. Dadurch, dass es sich um die eigene Muttersprache handelt, sind mit bestimmten Worten Assoziationen und Nuancen verbunden. Einen guten deutschen Text zu schreiben, der sich nicht plump oder kitschig anhört, ist daher viel schwieriger.
Außerdem sind natürlich viele der großen Vorbilder im Metal/Hardcore-Bereich englischsprachig und wenn man diesen nacheifern möchte, übernimmt man dann auch deren Sprache.
In meiner Rezension habe ich schon angedeutet, dass ihr meine Lieblingskandidaten für eine Coverversion eines Fleischmann-Stücks seid – kennt ihr die Band eigentlich?
Ralf: Tatsächlich hab ich mir die Band erst nach deiner Rezension angehört. Finde es aber durchaus spannend, was die Jungs gemacht haben. Also danke für den indirekten Musiktipp.
Es gab mal eine Zeit, in der deutschsprachige Bands für die innovativen Impulse in der Musikszene verantwortlich waren. Bands wie Die Schweisser, Fleischmann, Die Allergie, Weissglut, Richthofen, Such A Surge nicht zu vergessen – und ja, natürlich auch Rammstein.
Heute habe ich manchmal das Gefühl, dass man mit deutschen Texten schon beinahe unbeliebt ist (wenn man nicht nach den Onkelz klingt).
Warum hat man es als Band so viel schwerer, wenn man deutsch singt?
Christian: Wenn man jemandem erzählt, dass man Metal mit deutschen Texten macht, kommt als nächstes die Frage, ob es wie Rammstein sei. Das ist zunächst seltsam, aber auch verständlich. Der Mensch ordnet nach Schemata, die er kennt. Vielleicht besteht da einfach noch Nachholbedarf – die Nachfrage scheint jedenfalls da zu sein.
Ralf: Zum einen ist das immer auch ein bisschen ein Trend, der mal kommt und mal geht, zum anderen wird man eben genau in die von dir genannten Bandkategorien gesteckt: entweder man wird mit Rammstein oder den Onkelz verglichen. Schweisser und Such A Surge sind da ja schon große Ausnahmen und vermutlich heutzutage nur noch wenigen ein Begriff.
Viele Musikhörer sind einfach skeptisch, wenn man eben nicht in ein bestimmtes Schema passt und daher muss man als Band sicherlich mehr kämpfen.
Christian: Nach Konzerten haben wir tatsächlich häufiger gehört, dass Leute aus dem Publikum zunächst skeptisch waren, als sie gemerkt haben, dass wir auf Deutsch singen. In vielen Fällen haben wir die Skepsis auflösen können.
Stand bei euch jemals zur Debatte, englisch zu singen?
Christian: Ja, aber es wollte nicht passen.
Vielen Dank für das Interview!
Die letzten Worte gehören euch!
Christian: Vielen Dank für das Interview!
Ralf: Danke für das Interview und die spannenden Fragen.
Hört in unser neues Album „Selbstmitleitkultur“ rein und besucht uns auf unserer Web- oder Facebook-Seite. Aktuell arbeiten wir auch an den nächsten Auftritten, da wird es also hoffentlich bald ein Update geben.
(mk)